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Autor Mitteilung
Weißer Wolf
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Beiträge: 463


Gesendet: 01:21 - 10.09.2004

Wir brauchen eine große Stadt
Berlins Zukunft liegt in seiner Vergangenheit / Von Dietmar Jazbinsek

von Dietmar Jazbinsek

Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, das Wien der Belle Époque, Berlin in den 20er Jahren, die "Roaring Sixties" in London - die großen Zeiten der europäischen Stadt liegen lange zurück und werden wohl auch nicht wiederkehren. Und doch brauchen wir die große Stadt - als Erinnerungsort. Einen besonderen Aspekt des sinnlichen Erlebens, der für die Erfahrung der Großstadt wichtig ist, benennt der antiquiert anmutende Begriff des genius loci. Der "Geist eines Ortes" wird von den Geschehnissen bestimmt, die sich dort abgespielt haben und die man deshalb nirgendwo anders so gut nachempfinden kann.


Berlin hat in dieser Hinsicht eine Menge zu bieten: die Berliner Mauer und den Checkpoint Charly als Sinnbilder des Kalten Krieges, den Stasikomplex in der Normannenstraße als steinernes Zeugnis des Überwachungswahns, die Topographie des Terrors nationalsozialistischer Machtzentralen. Denkmäler zu den Hurramomenten der eigenen Geschichte gibt es überall, doch an kaum einem anderen Ort der Erde prägt die Aufarbeitung traumatischer Ereignisse das Stadtbild in vergleichbarer Weise. Der Besucheransturm auf das Jüdische Museum in Kreuzberg, der Publikumsandrang in der Reichstagskuppel, die Kontroverse um den Bau des Holocaust Memorials und ihr weltweites Echo belegen, welche Bedeutung der Erinnerungspolitik für die imaginäre Gemeinschaft der Deutschen und deren Image in der Weltöffentlichkeit zukommt. Auf die wachsende ökonomische Bedeutung des Städtetourismus sei nur am Rande verwiesen. Die Zukunft Berlins liegt in seiner Vergangenheit.


Wir brauchen die große Stadt auch als Ort der Begegnung. Alte Leute haben in einer Kleinstadt wahrscheinlich weniger Angst, auf die Straße zu gehen. Auch für Familien mit Kindern ist die Großstadt kein idealer Wohnort. Doch schon für die Jugendlichen sieht die Sache anders aus: Wenn es weit und breit nur eine einzige Dorfdisco gibt, wo man ein bisschen Spaß haben kann, ist das eine ziemlich trübe Perspektive. Und für jemanden aus der Single-Generation kommt die Aussicht, unter dauernder Beobachtung der Nachbarn im Reihenhaus gegenüber zu stehen, der Hölle recht nahe. Soll heißen: Die Vorhersage, dass die "Randstadt" (edge city) die Wohnform der Zukunft ist, wird auch durch ihre ständige Wiederholung nicht plausibler. Sie blendet nämlich die Vorteile der großstädtischen Anonymität ebenso aus wie die Nachteile kleinstädtischer Intimität. Zur letzteren gehört die Gewissheit, dass nur noch Grünflächen übrig bleiben werden, wenn alle ins Grüne ziehen, aber keine naturnahen Landschaften mehr.


Ein Vorteil der urbanen Lebensform ist es, Bekannten aus dem Weg gehen und immer wieder Fremde kennen lernen zu können. Interessenverbände können sich solche unangenehmen Überraschungen nicht leisten. Darum legen sie von vornherein großen Wert auf persönliche Kontakte zu den Entscheidungsträgern in der Politik. Der Lobbyismus gehört zu den wenigen Boombranchen Berlins, denn die Geheimdiplomatie der Verbände ist auf die Möglichkeit zu vertraulichen Gesprächen angewiesen, also nicht durch die bloße Übermittlung von Daten ersetzbar. Aus demselben Grund ist es von Vorteil, wenn ein Unternehmenssitz nur einen Fußmarsch weit vom Regierungssitz entfernt ist. Es geht hier wohlgemerkt allein um die Funktionalität der informellen Kommunikation.


Die Umgangsformen in einer großen Stadt wie Berlin bieten mehr Anonymität als die einer Kleinstadt und mehr Intimität als eine Begegnung im Cyberspace.


Wir brauchen die große Stadt als innovatives Milieu. "Tatsächlich sind die großen Städte die Zentren des Fortschritts", schreibt Emile Durkheim, "in ihnen werden die neuen Ideen, Moden, Sitten geboren, die sich dann später auf das übrige Land ausbreiten." Durkheim weist auf die Zuwanderung junger Leute hin, die sich in der Großstadt der sozialen Kontrolle ihrer Familien entziehen und eigene Ideen, Moden, Sitten entwickeln. Zudem ist die Großstadt traditionell ein Zufluchtsort für soziale Außenseiter, die sich hier mit Gleichgesinnten zusammenschließen können.


Irgendwann erreicht jedes abweichende Verhalten eine kritische Masse, bei der es eine neue Qualität bekommt und sich zu einer eigenständigen Subkultur entwickelt. Die Dynamik sozialer Innovationen kommt jedoch nur dann in Gang, wenn Grenzüberschreitungen zur Gewohnheit werden und das Patchwork der Minoritäten, der Pluralismus der Lebensstile nicht zur gegenseitigen Abschottung der Milieus führen.


Ein historisches Beispiel: "Berlin ist, wenn' s sich mischt" sagte man vor hundert Jahren, als die Stadt zum ersten Mal das war, was sie heute wieder werden will: eine Weltstadt. Die Metropole des Kaiserreiches war eben nicht in erster Linie die deutsche Hauptstadt oder ein Industriestandort, Bankenzentrum und Militärstützpunkt oder eine Stadt der Kirchen, Künste und Wissenschaften, sondern sie war all dies zusammen, ein multifunktionales, polyzentrisches und kosmopolitisches Gebilde, ein unübersichtlicher und durchaus ungemütlicher Lebensraum. Die Stadt lebte von Grenzgängern, die für die Querverbindungen sorgten zwischen Bohème und Modeindustrie, Medien und Schwulenszene, Sexualwissenschaft und Feminismus, Sozialdemokratie und Lebensreform. Informelle Kontakte spielten dabei eine große Rolle.


Für das kreative Potential einer Gesellschaft sind Zufallsbekanntschaften mindestens ebenso wichtig wie die intellektuelle Planwirtschaft, die in japanischen Retortenstädten und amerikanischen Technologieparks Gestalt angenommen hat. In der Großstadt trifft man Leute, nach denen man niemals gesucht hätte, und es kommen Dinge zusammen, die scheinbar gar nicht zusammengehören.


Nur eine City, in der sich ein Netzwerk von Netzwerken entwickelt, hat das Potential zur Global City. Wo, wenn nicht in Berlin?


Dietmar Jazbinsek ist Metropolenforscher am Wissenschaftszentrum Berlin.


Artikel erschienen am Fr, 10. September 2004


Quelle: http://www.welt.de/data/2004/09/10/330372.html?s=1

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